Sandra Roth

1.7.2021

Wer ist am originellsten? - Ein quantitativer Vergleich der User Experience von Netflix, Amazon Prime Video und Disney+

Wenn du bereits einen unserer anderen Artikel zum Vergleich von Netflix, Amazon Prime Video und Disney+ gelesen hast, überspring gerne die folgende Einleitung und lese direkt beim Abschnitt “Originalität” weiter.

Die drei etablierten Video-on-Demand (VoD) Anbieter Netflix, Amazon Prime Video und Disney+ versprechen im Grunde alle das Gleiche: Schaue zu jeder Zeit, was dir am besten gefällt. Und doch ist die Umsetzung in den Details und damit der Erfolg der Anbieter unterschiedlich. Derzeit liegt Netflix mit ca. 208 Millionen Abonnent:innen weltweit an der Spitze, gefolgt von Amazon Prime Video mit starkem Wachstum in 2020 und inzwischen etwa 150 Millionen Abonnent:innen. Noch relativ neu am Markt zählt der Anbieter Disney+ weltweit 100 Millionen Abonnent:innen (Stand 24.06.2021).

Sagen die Zahlen der Abonnent:innen etwas über die User Experience mit dem Produkt aus? Wieso gefällt uns Netflix besser als Amazon Prime Video oder andersherum? Liegt das ausschließlich an den angebotenen Inhalten? Gibt es konkrete Dinge oder ist es einfach das große Ganze, das bei einem Anbieter mehr überzeugt als beim anderen? In einer kleinen Studie haben wir untersucht, wie Nutzer:innen die UX von Netflix, Amazon Prime Video und Disney+ bewerten.

Um die UX quantitativ zu messen, haben wir den Fragebogen User Experience Questionnaire + (UEQ+) verwendet. Der UEQ+ ist die modulare Variante des UEQ Fragebogens und ermöglicht es aus mehreren Bewertungsskalen zu wählen. So kann die Umfrage besser an das jeweilige Produkt angepasst werden. Zu jeder Skala gibt es gegensätzliche Wortpaare, die das Nutzungserlebnis beschreiben (Bsp.: Kompliziert - Einfach).

Die Proband:innen wurden ausschließlich zu ihrem Erlebnis mit einem der drei Anbieter in Bezug auf die TV-Nutzung befragt. Somit spiegeln die Ergebnisse nur diese wider, Mobile- und PC-Nutzung sind nicht enthalten. Folgende fünf Skalen haben wir von über 60 Proband:innen bewerten lassen, je 20 Proband:innen pro Anbieter:

Die ausgewählten Skalen des UEQ+ für den quantitativen Vergleich der User Experience von Netflix, Amazon Prime Video und Disney+


Der Bereich der Skalen liegt zwischen -3 (furchtbar schlecht) und +3 (extrem gut). Aufgrund der Berechnung von Mittelwerten über verschiedene Testpersonen mit unterschiedlichen Meinungen ist es äußerst unwahrscheinlich, Werte über +2 oder unter -2 zu beobachten.

Im folgenden Artikel beschreibe ich die Auswertung der Skala Originalität. Am besten abgeschnitten hat hier der Anbieter Netflix. Warum ist das so ist, wird im Folgenden beschrieben.


Originalität

“Nutzer:innen haben den Eindruck, dass das Design des Produkts neu, frisch und originell aussieht und somit ihre Aufmerksamkeit erregt.”

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Im Bereich Originalität erhält Netflix durchweg die höchsten Werte (Mittelwert: 1,24). Darauf folgt Amazon Prime Video (0,74) und an letzter Stelle Disney+ mit einem negativen Mittelwert von -0,29.

Ein paar Worte vorweg, um das Thema Originalität einzukreisen. Die Proband:innen konnten anhand der Aussage “Die Produktidee bzw. die Gestaltung des Produkts finde ich”, zwischen folgenden gegensätzlichen Wortpaaren abwägen: phantasielos - kreativ; konventionell - originell; herkömmlich - neuartig; konservativ - innovativ. Die positiven Ausprägungen der Skala, kreativ, originell, neuartig und innovativ bedeuten: es entsteht etwas Neues. Eine Idee wird entwickelt, jemand erschafft etwas oder ist schöpferisch tätig. Es bedeutet aber auch, das Unbekannte tritt ein und die Routine verändert sich. Achtung, es besteht die ‘Gefahr’ überrascht zu werden. Und eine Überraschung kann eben sowohl eine positive aber auch negative emotionale Wirkung erzeugen.

Wir Menschen sind evolutionär bedingt die redensartlichen Gewohnheitstiere und blicken skeptisch auf Unbekanntes. Damit erleichtern wir unseren Alltag durch minimalen kognitiven Aufwand bei der täglichen Aufgabenbewältigung. Außerdem hilft Skepsis und Vorsicht vor Neuem dabei, Gefahren zu erkennen. Dennoch ist es für unseren Geist und unser Weiterkommen ebenso evolutionär wichtig, aus der Routine auszubrechen und uns auf Unbekanntes einzulassen. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen Routine und Abwechslung. Und das wird auch in den Ergebnissen der Skala Steuerbarkeit und Originalität sichtbar. 

Steuerbarkeit, also das Gefühl, Nutzer:innen haben stets die Kontrolle über die Anwendung und die Skala Originalität, also das Gefühl, Nutzer:innen erleben etwas Frisches und Originelles, stehen im Gegensatz zueinander. Um wieder zum Thema Video-on-Demand Anbieter zurückzukehren, können nämlich neue Features und die inhaltliche Darstellung der Filme und Serien einen positiven Effekt auf die Originalität haben, wenn sie überraschen und inspirieren. Aber gleichzeitig haben sie einen negativen Effekt auf die Steuerbarkeit, da sie eben auch das Gefühl von Kontrollverlust hervorrufen können. Wo die häufige Abwechslung und das Abweichen von Routine sich bei der Skala Steuerbarkeit negativ auswirken, ist es genau das, was Netflix im Bereich Originalität so hervorstechen lässt. Hier ein Gleichgewicht zu finden, dass Nutzer:innen durch kreative Features und Inhalte inspiriert, ohne sie durch zu starkes Abweichen von der Routine zu “erschrecken”, das gelingt Netflix durchaus überzeugend.


Beim Blick auf Netflix fällt vor allem die kreative Aufbereitung der Inhalte auf. Abwechslungsreiche Bilder, Filmsequenzen als Einblick in einen Film oder Serie anstelle von polierten Coverbildern und die dazu passende Typographie verschaffen dem Sieger dieser Kategorie einen überzeugenden und inspirierenden Gesamteindruck. Netflix bricht häufig aus dem Grid aus und bringt Bewegung in das Film- und Serienangebot durch neue Anordnung der Lanes oder wechselnde Cover. Bei der inhaltlichen Aufbereitung der Angebote orientiert sich Netflix am aktuellen Zeitgeist sowie am individuellen Nutzenden. Zum Beispiel gibt es wechselnde Kategorien, nach denen Filme und Serien sortiert sind: “Filme mit starker weiblicher Hauptrolle”, “Weil du ‘Stromberg’ gesehen hast, könnte dir auch gefallen” oder “Heute die TopTen in Deutschland”. Zusätzlich führt Netflix regelmäßig Anpassungen von Features durch und neue Funktionen ein. Beispielsweise eine neue Anordnung der Auswahl von Sprache und Untertitel, die ohne Klick in ein Untermenü ansteuerbar ist. Oder die Ergänzung der Film-Kollektion im Untermenü eines Films, mit allen Filmen einer Filmreihe.

Mitunter entsteht der Eindruck, dass sich Netflix wirklich mit seinen Inhalten und deren Nutzung auseinandersetzt und Liebe zum Detail beweist. So finden sich zu Filmen und Serien redaktionell erstellte Insights über Erfolge, Regiearbeit, Auszeichnungen oder Nominierungen. Wird das geöffnete Netflix über längere Zeit nicht angesteuert, wechselt die Ansicht in einen Screensaver-Modus, der Nutzer:innen personalisierte Serien- und Filmvorschläge präsentiert. Einfache Methoden, die aber durch Einbezug der persönlichen Vorlieben, überzeugen und inspirieren.


Amazon Prime Video hingegen macht einen insgesamt trockenen und wenig emotionalen Eindruck bei der Nutzung. Mit Bildmaterial und dem Einsatz von passender Typographie und Farbe wird sparsam umgegangen. Die Nutzung fühlt sich etwas statisch und abgehakt an. Um z.B. mehr über einen Film oder Serie zu erfahren, werden Nutzer:innen, mit einem Gefühl der Unterbrechung, auf eine neue Seite umgeleitet und erhalten dort mit Glück die Informationen, die dann bei der Entscheidung helfen, ob man diesen Film denn nun sehen möchte oder nicht. Die inhaltliche Aufbereitung der Angebote hat, statt der Nutzer:innen, vor allem das Abomodell im Fokus. Die Lanes haben das teilweise in hervorgehobener Farbe in ihren Überschriften stehen: “Enthalten in Prime” oder “Kaufen und Leihen”. Das ist zwar informativ aber nicht gerade kreativ. 

An dieser Stelle bietet es sich an, noch einmal das Thema Überraschungen auf den Tisch zu legen. Für jede geplante positive Überraschung braucht es auch Wissen über persönliche Interessen oder Geschmack. Im Hinblick auf Personalisierung findet man bei Amazon Prime Video jedoch wenig greifbare Momente. Überraschende Situationen, die die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen fesseln, entstehen so nur durch Zufall. Die gesamte Menüstruktur erinnert an eine Ordnerstruktur auf dem PC und wirkt daher im Vergleich zu Netflix leider etwas verschachtelt. Im Gesamten entsteht ein monotones, konventionelles aber auch verlässliches Bild des Anbieters, was die Ergebnisse der Umfrage gut widerspiegeln.


Und welcher Anbieter war jetzt noch bei der Untersuchung dabei? Disney+ landet mit seinen Werten leider im negativen Bereich, wird demnach als konventionell, herkömmlich und konservativ angesehen. Dabei steht doch die Marke Disney genau für das Gegenteil, ist verknüpft mit Erlebnis, Magie, Kreativität und Inspiration. Fantasievolle Welten, in der Kinder nie erwachsen werden, Geschichten voller Abenteuer und liebenswerter Charaktere, Superheld:innen, die das Universum vor wahrhaftigen Schurk:innen retten. All das würde viel Potenzial bieten. Das Schlusslicht der Skala Originalität bereitet seine Inhalte aber in erster Linie übersichtlich, klassisch und im Vergleich zu Netflix etwas neutraler und vorsichtiger auf. Gegenüber Amazon Prime Video nutzt Disney+ zwar Typographie, Farbe und wirkungsvolle Bilder, schneidet aber doch schlechter ab. Auch was Informationstiefe, Ansteuerung der Inhalte und gängige VOD-Features betrifft, fährt Disney+ die gleichen Standards auf wie die Konkurrenz. Und dennoch sieht es so aus, als wären die Nutzer:innen in puncto Originalität enttäuscht. Scheint so als würde Disney+ es nicht schaffen, dass sich Nutzer:innen wie ‘Alice im Wunderland’ fühlen, sondern eben doch einfach wie der ‘Stefan im Wohnzimmer’. Und diese Enttäuschung durch eine nicht erfüllte Erwartungshaltung könnte der Grund für das schlechte Abschneiden sein. Da Disney+ aber noch recht neu am Markt ist, sind die Hoffnungen groß, dass der Anbieter sich stetig weiterentwickelt, mit einer ‘magischen’ User Experience im Fokus.

Dieser Blogartikel ist ein Teil der Serie “Ein quantitativer Vergleich der User Experience von Netflix, Amazon Prime Video und Disney +”. Wenn dich interessiert wie die drei Anbieter bei den anderen vier Skalen abgeschnitten haben, verlinken wir hier die Artikel.

Ist die Steuerbarkeit ausschlaggebend?

Die Bedeutung von visueller Ästhetik für UX

Wie durchschaubar muss ein VoD-Anbieter sein?

Wer weckt am meisten Vertrauen?



Weiterführende Informationen und Quellen:

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/196642/umfrage/abonnenten-von-netflix-quartalszahlen/ - zuletzt aufgerufen am 24.06.2021

https://t3n.de/news/amazon-hat-weltweit-150-millionen-1247966/ - zuletzt aufgerufen am 24.06.2021

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1186805/umfrage/abonnenten-von-disney-plus/ - zuletzt aufgerufen am 24.06.2021

Sandra Roth

UX Designer

sr@coeno.com

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